Musik
Musikwoche Braunwald: Musikalischer Weitblick aus dem engen Tal
1936 wurde die Musikwoche Braunwald gegründet: eine Pioniertat. Was macht dieses kleine Sommerfestival für Künstler und Publikum bis heute attraktiv?
Es war ein Aha-Erlebnis: Vor bald zwanzig Jahren wurde ich als freie Mitarbeiterin der „Glarner Nachrichten“ erstmals mit einer Digitalkamera – der grosse Stolz der Redaktion! – hinauf nach Braunwald geschickt, um in der Tödihalle zu fotografieren: Das Glarner Musikkollegium probte damals mit dem Solisten Stefan Tönz Vivaldis Jahreszeiten-Violinkonzert. Die Turnhalle mit den grossen Glasfenstern – mitten im üppigen Grün eines Bergwaldes auf mehr als 1200 m. ü. N. platziert wie ein Aquarium – erschien mir als Konzertort beinahe surreal. Zugezogen aus Deutschland, wo ich meist in Ballungsgebieten wie dem Rheinland, Ruhrgebiet und Berlin gewohnt hatte, waren mir eher philharmonische Konzertsäle und Opernhäuser bekannt. Umso mehr faszinierte es mich, wie intensiv, wie anders einen diese Umgebung bereits bekannte Musik erleben lässt. Ich war zugleich in zwei Welten: jener von Vivaldis Musik, und der des Luftkurortes Braunwald. Ein Refugium, das man zwar nicht mit einer heilen Welt gleichsetzen kann (dazu gibt es auch dort genug noch ungelöste Probleme). Aber eines, welches durch seine gewisse Distanz zum Getriebe im Tal, durch geringeren Dichtestress und gar den vorgegebenen Takt der Standseilbahn – sie fährt nur zu bestimmten Zeiten – einlädt, zur Ruhe zu kommen und sich neu aufs Schauen, Hören, Nachdenken einzulassen. Als ich in den Folgejahren regelmässig an die Musikwoche Braunwald ging und immer wieder auch Verwandte und Freunde aus dem Ausland aus grossstädtischem Umfeld mitnahm, erlebte ich auch deren Begeisterung und Staunen über diese unvergleichliche Symbiose von Natur und Musik.
1936 gegründet, ist dieses klassische Sommerfestival schweizweit das wohl erste gewesen (noch vor Luzern 1938!) und hat auch in alpinen Gefilden etliche Nachfolger gefunden. Damals aber, so verstehe ich es, waren es nicht hochtrabende Visionen der Gründer (Dr. Nelly Schmid, Professor Cherbuliez), sondern ganz praktische und handfeste Beweggründe, in Braunwald etwas anzubieten: Im Vorfeld und während des zweiten Weltkriegs waren Künstler auf der Flucht oder mussten nach neuen Auftrittsmöglichkeiten Ausschau halten. Andererseits war da der ruhige, abgelegene Ferienort Braunwald, wo sich auch kulturinteressiertes Publikum einfand. Eine fast familiäre Gemeinschaft entstand. Künstler wie Schlusnus, Gieseking, Paumgartner, Clara Haskil kamen, der Komponist Béla Bartók weilte 1936 und 1938 (kurz vor seiner Emigration in die USA) im Tödiblick. Übrigens: Im Sommer 2000 wurde in Braunwald zum Thema „Musik im Exil“ ein Symposium mit Fachreferaten und Konzerten in Braunwald abgehalten. 2019 war dann „Refugium“ das Wochenmotto.
Gerade heuer konnten sich die Veranstalter über eine Rekordwoche freuen. Allein die Vorverkäufe schnellten auf das 4-fache hoch. Wie kann man sich den Erfolg dieser Musikwoche erklären? Was macht sie attraktiv, was hält sie jung?
Offene Ohren und Augen
Ich denke, einerseits ist es die gelungene Mischung von Bekanntem – das Konzept ist bewährt – und Neuem. Inhaltlich, künstlerisch ist eine grosse Offenheit da, sowohl von den Programm-Machern wie auch vom Publikum. Man hört übrigens nicht nur Musik, sondern auch interessante Referate, erlebt Kunst (heuer: Fridolins Walchers Konzertsaal der Fotografie), Literaten (heuer: Tim Kohn) oder wie vor zwei Jahren etwa eine Schulklasse, die sich künstlerisch mit den Herausforderungen der Zukunft befasst. Und es werden nicht nur die vertrauten Klassik-Hits von international renommierten Künstlern gespielt (auch die waren da – etwa das Carmina Streichquartett und Tenor Werner Güra), sondern auch unbekannte Werke oder Interpreten auf die Bühne gebeten, manchmal gibt’s sogar Uraufführungen oder etwas Experimentelles wie einen Klangspaziergang.
Der Nachwuchs zählt
Auch die Matineekonzerte, meist mit Nachwuchskünstlern besetzt, finden ihr Publikum. Sicher auch, weil es weiss, dass der Musikalische Leiter Michael Eidenbenz die Künstler kennt, die er engagiert. Weil die Qualität stimmt. Die Jungen stehen mit ihrem Können den Arrivierten oft um nichts nach. „So wunderbar, so tief beeindruckend habe ich diese Werke noch nie interpretiert gehört“, schwärmt etwa ein Besucher nach dem Freitagmorgenkonzert – gespielt wurden Brahms‘ und Mozarts Klarinettenquintette durch Studierende der ZHdK. Mit ihrem Professor, dem Cellisten Thomas Grossenbacher, hatten sie ihr Programm in der Kammermusik-Akademie in Braunwald über die Woche einstudiert. Michael Eidenbenz hat die Akademie mit grossem Erfolg vor wenigen Jahren nach Braunwald geholt, ins Programm integriert.
Auch das Donnerstagmorgen-Konzert mit den jungen Musikern Nuriia Khasenova, (Flöte) Damien Bachmann (Klarinette), Kateryna Tereshchenko (Piano) ist erstaunlich gut besucht. Und das mit zeitgenössischer Musik, deren Spektrum ziemlich weit reicht – vom Klezmer über Jazz bis hin zur „Techno Parade“ des 1970 geborenen Komponisten Guillaume Connesson. Chapeau!
Nahbare Solisten
Mit Teo Gheorghiou wurde auch fürs Klavier-Rezital vom Dienstag ein junger Solist eingeladen, Jahrgang 1992. Er macht grossartige Musik, erzählt aber auch dem Publikum von seinem Lampenfieber, von seiner aktuellen Entdeckungsreise in die Gefilde spanischer und französischer Klavierliteratur. Das sind Länder, die er auch auf langen Velotouren bereist (so etwa von London nach Marokko) und wo ihn die Kultur sehr interessiert. Da spult also nicht einer einfach das übliche Piano-Repertoire ab, sondern nimmt das Publikum mit in seine Welt, überträgt die ureigene Begeisterung. An diesem Abend war der Bellevue Saal voll besetzt, es hatte vorher einen Sponsorenempfang gegeben. Mag sein, dass nicht von vornehinein jeder dort einen Bezug zur klassischen Musik hatte, aber dieses Konzert, den Künstler zu erleben, konnte kaum jemanden kaltlassen.
Damit komme ich zu einem weiteren Erfolgsfaktor: In Braunwald ist das Publikum nicht einfach Konsument der Kunst von unnahbaren Stars. Für die Dauer des Konzertabends (-morgens), vielleicht für die ganze Woche, teilt man die Magie der Musik, eine Beziehung entsteht, Austausch. Das zutiefst menschliche Bedürfnis nach Kommunikation wird erfüllt. Auch die Künstler, die ja keine Performance-Maschinen sind und im Tourneebetrieb oft verwaisen, macht es glücklich, hier Mensch sein zu dürfen. Ob im Kontakt mit anderen Menschen, mit der Natur oder sich selbst.
Partizipation wird auch, ganz wichtig, in der Singwoche gelebt: Ein Amateurchor gemeinsam mit Profimusikern und Solisten bestreitet das Schlusskonzert. Und das meist auf erstaunlichem Niveau! So zu erleben auch 2019 mit der Semi-Oper „King Arthur“ unter Leitung des aus Braunwald stammenden Dirigenten Reto Cuonz. Die Singwoche war mit 66 Teilnehmenden ausgebucht, der Konzertbesuch rege.
Selbstkritisch bleiben
Zum Schluss: Eine wichtige Stärke der Musikwoche Braunwald sehe ich darin, dass die Veranstalter selbstkritisch bleiben, die Weiterentwicklung suchen. So haben der Präsident Hans Brupbacher und sein Vorstand vor Jahren mit einem gezielten Changeprozess die Problemzonen analysiert und angepackt. Man begnügte sich nicht mit einem moderneren Erscheinungsbild, es ging auch ums optimierte Angebot, um Synergien, um Bedürfnisse des Publikums, junges und neues Zielpublikum. Braunwald ist nach wie vor verkehrstechnisch schwierig und hat zwar verschiedene Konzertlocations – aber mit verschiedenen Vor- und Nachteilen. Letztere konnten zu neuen Lösungen motivieren: weitere Konzertorte im Tal zu nutzen (Linth Park Glarus Süd, Kirche in Linthal), ein Familienkonzert gratis für Kinder anzubieten, attraktivere Packages für Touristen, kompaktere Blöcke von Veranstaltungen und mehr Freizeit dazwischen. Jedes Jahr bieten die Programm-Macher am letzten Tag eine Rückmelderunde an. Auch die wurde wieder rege genutzt. Sicher ein guter Weg, um für die Zukunft gerüstet zu sein. Und natürlich hängt es immer auch an Personen: Solange, wie jetzt, ein engagiertes Team am Zug ist, darf man zuversichtlich sein.
Text und Bilder: Swantje Kammerecker
Autor
Kulturblogger Glarus
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