Cover Engadinerinnen
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Lesung Overath
Lesung Overath
Overath beim Signieren
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Zuhörende
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Glarus, East Switzerland, Graubünden, Zurich

Über Heimat und Identität  - Frauenleben im Engadin

Angelika Overath hat am 15. März in Glarus aus „Engadinerinnen – Frauenleben in einem hohen Tal“ gelesen. Ihr doppelter Blick, als Zugezogene und Dazugehörige, macht das Projekt der 18 Frauenporträts spannend – gerade auch für Glarner:innen.

Wer oder was ist eine Engadinerin? Über diese Frage sprach Angelika Overath gerade am Anfang ihrer Lesung für den Verein kulturzyt bei Baeschlin Bücher in Glarus. Immerhin sind nur 11 der 18 im Buch beschriebenen Frauen „eingeborene“ Bündnerinnen. „Ich porträtierte als erstes eine Ärztin, die in Ostberlin aufgewachsen ist, aber schon lange hier praktiziert und mein Sohn meinte, das geht doch nicht, das ist doch keine Engadinerin.“

Angelika Overath sieht es anders; auch sie wanderte vor bald zwei Jahrzehnten aus dem deutschen Tübingen mit ihrer Familie ein, sie bauten sich in Sent ein neues Leben auf. „Wer hier lebt, arbeitet, mit der Region und für sie, gehört für mich dazu.“ Das tat sie unter anderem, indem sie Rätoromanisch lernte und sogar Gedichte zu schreiben begann. „Ich liebe diese Sprache, aber bin noch immer nicht gut darin“, sagt sie in aller Bescheidenheit. Doch die Auseinandersetzung mit der „Fremdsprache“, in der sie jedes Wort zweimal umdreht, immer wieder vergleicht ob es da eine Entsprechung im Deutschen gibt, dieses Fehlen von Selbstverständlichkeit, lässt auch ein besonderes Staunen zu. Wie zum Beispiel bei der Vokabel „Increschantüm“, die sie nicht nur wegen des Klanges liebt, sondern auch wegen dem mehrfachen Mitschwingen von Bedeutungen: Sehnsucht, aber auch ein „Wachsen“, eine Art Wehmut, stecke darin. Poesie aus ersten Worten, Poesias dals prüms pleds, hiess ihr erster zweisprachiger Gedichtband, der zweite: Schwarzhandel mit dem Himmel, Marchà nair cul azur.

Ebenso wie die Gedichte zeigen auch die Porträts im jüngsten Buch „Engadinerinnen – Frauenleben in einem hohen Tal“ jenen faszinierenden doppelten Blick – von aussen und von ihnen. „Erst seit ich sie von dir beschrieben gelesen habe, kann ich unsere Berge so sehen“, das war mal eines der schönsten Komplimente, welches sie für eines ihres Engadiner Bücher erhalten habe, sagt Overath. Das sei für sie ein riesiges Geschenk, ebenso die freimütigen Erzählungen ihrer Interviewpartnerinnen. Als sie das sagt, klopft mein Herz laut mit und eine tiefe Wärme erfüllt mich. Genauso ging es mir vor ein paar Jahren, als ich beim Buch „Föhnsturm – 25 Männerporträts aus dem Glarnerland“ (Baeschlin)mitschrieb, sogar das Vorwort verfassen und die Kapitel der Mitautorinnen lektorieren durfte. So wie sich Overath als eine Engadiner Europäerin bezeichnet, würde ich mich (seit 1999 in Glarus wohnhaft) als Glarner Europäerin bezeichnen. Ja, es ist eine Ehre und Verpflichtung, sich in solchen Projekten einbringen zu dürfen.

Angelika Overath hat den Grundstein für ihr Buch selber gelegt, indem sie beim Traditionsmagazin „Terra Grischuna“ fragte, ob Interesse an einer Serie über Engadinerinnen bestünde. Es wurde eine Erfolgsstory, die über drei Jahre ging: Alle zwei Monate ein Porträt, Besuche in einem vordefinierten Rahmen – einige Stunden zuhause bei der Frau, eventuell noch am Arbeitsplatz, sie macht die Fotos auch selber, nimmt Änderungswünsche bis kurz vorm Gut-zum-Druck an. Ein Porträt, einmal zugesagt, wird auch vollendet, „auch auf die Gefahr hin, dass es langweiliger werden könnte als gedacht, aber dies war zum Glück nie der Fall.“. Und keine laufende Tonaufnahme, aufmerksames Mitschreiben per Hand: Das hat offenbar genau jeden Vertrauensvorschuss gelegt, der ermutigt hat, authentisch zu erzählen. Dazu kommt wohl noch die Haltung der Autorin, die man im persönlichen Kennenlernen auch erleben kann: Eine gewisse schlichte Bescheidenheit, die Selbstbewusstheit (ich schreibe nicht Selbstbewusstsein) mit einschliesst, eine dankbar empfangende Haltung, „für mich ist das Schreiben eine dienende Arbeit“. Immer wieder seien ihr Schicksale auch sehr nahe gegangen, bilden doch die Porträts die ganze Palette des Lebens ab – im Guten wie im Schwierigen. Sehr gefallen hat mir, dass es als Titel jeweils charakteristische Zitate von den einzelnen Frauen gibt. Sie machen sofort neugierig. Vielleicht fragt sich die Leserin, was würde über meinem Porträt für ein Zitat stehen?

Und dann ist da dieses Bodenständige in den Geschichten, die scheinbar nebensächliche Beschreibung von kleinen Dingen – die Wohnung, das servierte Gebäck, die Art, wie eine Frau die vereisten Kurven auf ihrem Arbeitsweg nimmt: So wird das „show, don’t tell“ - Primat guten Schreibens in genau richtiger Dosierung erfüllt und gibt dem Porträt Würze, Farbe, Klang. Und dass ein Zürcher Verlag das Buch dann gemacht hat, mag auch daran liegen, dass es nicht nur um das Engadin und seine Fans geht, sondern eben auch um allgemein-menschliche Erfahrungen zwischen Aufbruch und Abschied, Hoffnungen und Leidenschaften, Geborgenheit und Fragen an die Zukunft – und somit um die Suche nicht nur nicht nur nach äusserer, sondern auch innerer Heimat.

Und um die oftmals unsichtbare Schönheit und Vielfalt von Frauenleben, die meist mehrere Berufe, Berufungen und Aufgaben miteinander in Einklang bringen (müssen). „Die Frauen hier schienen mir auf eine Art stärker, selbstbewusster“, stellte Overath fest. Frauen, die unverzichtbare Basisarbeit leisten, sei es in der Landwirtschaft, Hotellerie, als Dorfkorrespondentin, Krankenschwester oder Kindergärtnerin. „Ich wollte absichtlich nicht über berühmte Frauen, von denen es hier natürlich auch einige gibt, schreiben“, erklärt Overath. Aus fünf Porträts liest sie an diesem Abend Ausschnitte vor, ganz unterschiedliche Frauen. Eine gab in Neuseeland Mädchen aus Tahiti Skiunterricht, eine andere zog wegen der Liebe aus Holland her und führt ein Familienhotel im Engadin, eine weitere ist nach schwerer Krankheit glücklich als Weberin im zweiten Arbeitsmarkt… 

Am Schluss hören wir noch einige Gedichte. Eins beschreibt, wie sie während einer langen Zugreise den Käse isst, den eine der Engadinerinner gemacht hat. Dieses schöne Bild bleibt mir: Unterwegs, über Grenzen hinaus, in der Hand und auf der Zunge der (zwar vergängliche) Geschmack eines vertrauten Ortes. Angelika Overaths letzter grosser Roman „Unschärfen der Liebe“, der ebenfalls von einer langen Zugreise handelt (von Chur nach Istanbul), kam auf die Longlist des deutschen Buchpreises 2023. Hier erlebt der Protagonist, wie sich die Konturen der eigenen Identität und Zughörigkeit verwischen und verwandeln. Festhalten, festzurren können wir unsere Identität nie. Gerade das ist spannend, es ist auch eine Chance. Der Roman zeigt – wie das Porträtbuch: Heimat ist immer Beziehung und niemals Besitz. Das gilt auch für uns Glarner (Europäerinnen und Weltbürger).

Swantje Kammerecker

Autor

Kulturblogger Glarus

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Published on

17.03.2024

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www.glarneragenda.ch/ECywXH