Nouvelles régionales, Culture
Nichts als Liebe
Weihnachten gilt als Fest der Liebe zur Geburt von Jesus Christus. Der 24. Dezember ist aber auch ein Gedenktag an einen besonderen Glarner, der an Heiligabend vor 160 Jahren in Winterthur starb.
von Werner Kälin, Kulturblogger
Die Rede ist von Heinrich Hössli (1784 bis 1864), dem frühen Kämpfer für die Liebe unter Männern. Er publizierte 1836 und 1838 die 700 Seiten umfassende Abhandlung «Eros – die Männerliebe der Griechen» in zwei Bänden.
Hössli schrieb als Erster darüber, dass die soziale Ächtung und Bestrafung der Männerliebe, ähnlich wie die Hexenverfolgung, auf Aberglauben und Vorurteilen beruhe. Er eignete sich umfassendes Wissen darüber an und wollte jahrhundertealtes Unrecht entlarven, um es in Zukunft zu überwinden.
Hössli rechnete nicht mit dem enormen Widerstand, den der erste Band seines «Eros» 1836 hervorrief. Den nächsten Band konnte er zwei Jahre später noch veröffentlichen. Dann setzten Kirche und Staat das Verbot der Verbreitung durch.
Stiefmütterliche Erinnerungskultur
Die Erinnerungkultur an Heinrich Hössli wird in Glarus kaum gepflegt. Dabei ist der Glarner nicht nur eine einzigartige Figur in der Schweizer Geschichte, sondern hat auch die Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Liebe in der Schweiz grosse Fortschritte gemacht.
Für diesen gesellschaftlichen Wandel ist der 28. Juni 1969 besonders wichtig: An der New Yorker Christopher Street protestierten Homosexuellee und andere Minderheiten gegen Polizeiwillkür. An vorderster Front wehrten sich Dragqueens, transsexuelle Latinas und Schwarze gegen wiederkehrende Kontrollen. Der Aufstand ging als Stonewall in die Geschichte ein, ausgelöst durch eine Razzia im «Stonewall Inn». Inzwischen erinnern weltweit Prides an den Befreiungsschlag für Menschen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Identität benachteiligt sind. Das Wort «Pride» beschreibt den selbstachtenden und stolzen Umgang mit der eigenen Identität.
Heute ist in der Schweiz die Ehe zwischen gleichgeschlechtlichen Paaren den heterosexuellen Ehen gleichgestellt. An der Volksabstimmung vom 26. September 2021 ergab sich mit 64,1 Prozent ein deutliches Ja zur Ehe für alle. Heinrich Hössli hätte sich wohl gefreut.
Langsame Fahrtaufnahme
Vor zehn Jahren nahm das Gedenken an Heinrich Hössli in Glarus Fahrt auf. 2014 veröffentlichte Rolf Thalmann die Biographie «Keine Liebe ist an sich Tugend oder Laster» über Hösslis Kampf. Es sorgte für nationale Aufmerksamkeit. Der Historiker und Buchautor Thalmann ist Stiftungsrat der Heinich-Hössli-Stiftung. Er sitzt auch im Vorstand vom Schwulenarchiv Schweiz. Beide Organisationen haben ihren Sitz im Kanton Zürich.
Anfang August dieses Jahres lud der Basler Thalmann zusammen mit drei Glarnern zu Heinrich Hösslis 240. Geburtstag ein. Der Historische Verein des Kantons Glarus ermöglichte die Finanzierung der kleinen Feier in seinem Geburtsthaus an der Abschläschstrasse in Glarus. In der Velowerkstatt von Francesco Base kamen Menschen aus der Schweizer Schwulenszene, der Glarner Politik und Gesellschaft mit weiteren Interessierten zusammen. Unter ihnen waren auch der Schwulenrechte-Vorkämpfer Ernst Ostertag mit seinem Glarner Partner.
Am 10. August 2024 öffnete die Familie Base das Geburtsthaus von Heinrich Hössli: Francesco Base, Nicola Base, Rolf Thalmann, Werner Kälin und Rolf Kamm (v.l.n.r.) luden gemeinsam zur kleinen Geburtstagsfeier ein.
Haus der Vielfalt
Im Rahmen von Hösslis Geburtstagsfeier kündigten die Gastgeber an, Hösslis Geburtshaus zum gegebenen Zeitpunkt von der Besitzerfamilie zu kaufen, um es zur Pflege der Erinnerungskultur an den Vorkämpfer der gleichgeschlechtlichen Liebe zu nutzen.
Diese Idee nimmt seit dem 20. Dezember weiter Form an. Im Hotel Glarnerhof gründeten acht Personen den Verein «Hössli Haus», der sich für den Erhalt und die Nutzung des Geburtshauses einsetzt und sich für die Glarner und Schweizer Geschichte in diesem Zusammenhang engagiert.
Ausserdem sensibilisiert der Verein für die Vielfalt sexueller Orientierungen und Geschlechtsidentitäten sowie für Intersektionalität, fördert die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen am gesellschaftlichen Zusammenleben und trägt zur Stärkung vielseitiger Lebensformen im Kanton Glarus bei.
Am 20. Dezember 2024 gründeten sie den Verein «Hössli Haus»: Matti Rach, Simon Gisler, Sarah Küng, Werner Kälin, Manfred Müller, Leana Meier und Rolf Thalmann (v.l.n.r.) mit Eva-Maria Kreis (Foto)
Pride in Glarus
Der Verein «Hössli Haus» widmet sich 2025 seinem ersten Projekt. Er organisiert gemäss Statuten unter anderem eigene Anlässe zu Hösslis Geschichte und dessen Geburtsthaus sowie rund um die Themen der sexuellen Orientierung, Geschlechtsidentität und Intersektionalität.
Das macht der junge Verein am 5. Juli 2025 mit der ersten Pride in Glarus. Das Programm ist noch nicht ganz spruchreif; Veranstaltungsort ist der Güterschuppen am Bahnhof Glarus. An der Gründungsversammlung wurde informiert, dass die Glarner Pride auf Literatur, Chormusik, Stadtführungen, Performance, Information, Austausch und Gemeinschaft setzt.
Abschied von Heinrich Hössli
Von Beruf war Heinrich Hössli Putzmacher. Er besass einen «ausgebildeten weiblichen Geschmack», den sogeannten Schick. In den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts war er «die erste Putzmacherin von Glarus» und fertigte das erste «Triböri», einen dreickigen Hut als Kopfbedeckung des Landammanns.
Ob Hössli selbst schwul war, ist nicht bekannt. Er und seine Frau hatten zwei Söhne. Sie lebten nicht oder nicht immer unter einem Dach. Nach seinem Tod am 24. Dezember 1864 erschien Hösslis Nekrolog im «Republikaner»:
«Winterthur. (Einges.) Ende letzter Woche veschied hier im 83. Lebensjahre ein auch in weiten Kreisen bekannter origineller Glarner; Namens Heinrich Hössli. Derselbe wurde im Jahr 1784 von unbemittelten Eltern geboren, kam dann in den auch fürs Glarnerland so verhängnisvollen Neunziger Jahren mit einem Transporte armer Kinder nach Zürich und später in ein Handlungsgeschäft in Bern.
Im Anfang dieses Jahrhunderts eröffnete er in Glarus ein sogenanntes Putzgeschäft, das er mit Erfolg bis Ende der Vierziger Jahre betrieb und gab es damals wohl wenige Familien landauf und ab, die nicht mit dem Putzmacher Hössli verkehrten. Neben seinem Geschäfte hatte derselbe auch einen unermüdlichen Dran nach Wissen und Bildung und verausgabte auch einen grossen Theil seiner Ersparnisse für Bücher und Schriften aller Art. In Folge dessen eignete er sich eine tiefe Denkungsart an und erhielt sein Geist einen philosophisch gelehrten Zug. Hössli stand s.Z. auch in Verbindung mit Zschocke und Troxler und erzählte stets mit Freuden, dass auf dessen Eingebung hin er den Eros in seine Novellen schrieb.
Mit seinem selbstgeschriebenen Werke Eros hatte der Verfasser jedoch wenig Glück, indem der damalige Rath von Glarus dasselbe weiter zu schreiben verbot; immerhin wird dieses Buch, wie wir schon Gelegenheiten hatten zu hören, von sehr gelehrten Personen weit milder beurtheilt und sagten einst die Verleger selbst, dass fragliches Buch von Laien meist nicht verstanden, dagegeben oft von Literaten gekauft werde, um daraus zu schöpfen und es bewundernswerth sei, wie so einem ungeschulten Manne möglich geworden, einen solchen Schatz von Gelehrsamkeit und eigenen neuen Ideen darin niederzulegen.
Nach Aufgebung seines Geschäfts in Glarus arbeitete der Alte mit regem Interesse an einem dritten Bande seines Werkes, um Unterlassenes nachzuholen und überhaupt seine Idee verständlicher und klarer zu machen, konnte denselben jedoch nicht mehr beenden, indem er von seinem unruhigen Geiste stets hin und her getrieben wurde und ein wahres Wanderleben führte.
Von Jugend auf ein Freund der Natur fesselten ihn besonders die Gestade des schönen Zürichsees und so wohnte er oft in Glarus, dann in Stäfa, Richterswyl, Lachen, Mollis, wieder Glarus und endlich zog er nach Winterthur.
Bis zu der Zeit, wo jenes in den Blättern veröffentlichte eigenthümliche Testament seines Sohnes John Hössli aus New-York ihm zu Ohren drang, blieb der Alte, seine anbegornen Eigenheiten abgerechnet, immer heiter und froh und als guter Gesellschafter stets gerne gelitten, seither war aber eine grosse Veränderung an ihm warzunehmen, die ihn nach und nach körperlich und geisitg zerstörte. Hössli behauptete nämlich immer und vielleicht nicht mit Unrecht, dass fragliches Testament nicht das richtige sei und noch ein anderes späteres Dokument existieren müsse.
In der Tat klingt es etwas sonderbar, wie ein unverheirateter Sohn, der ein Vermögen von beiläufig einer halben Million besass, seinen alten, nicht sehr bemittelten Vater in seinem letzten Willen nur mit Fr. 5000 bedenken und seinen einzigen Bruder übergehen konnte, währenddem die Hauptsumme seiner damals schon seit vielen Jahren abgeschiedenen Mutter gutkommen soll oder nach deren Tod einer ehemaligen Jugendfreundin des Erblassers, die ausser der Familie steht. Um so mehr, da der Sohn seinen Vater einige Monate vor seiner Verunglückung auf dem Meer noch von seiner Ankunft unterrichtete mit der freudigen Mittheilung, dass er nun in der Schweiz zu bleiben und irgendwo einen hübschgelegenen Landsitz zu kaufen gedenke, auf welchen er ihn dann zu sich nehmen wolle, um ihm den Rest seines unruhigen Lebens noch zu verschönern.
Hössli bemühte sich und hämte sich vergebens, dieses Dunkel zu lösen, es sollte ihm nicht mehr beschieden sein, diese Sache in klarem Lichte zu sehen.
Er hat nun ausgekämpft mit der Welt, die ihn so oft missverstanden hatte. Ruhe seiner Asche.»
Quelle: «Keine Liebe ist an sich Tugend oder Laster», Rolf Thalmann, Chronos Verlag Zürich, 2014, S. 22 bis 24
Hier und jetzt
Die Botschaft von Heinrich Hösslis Geschichte an die Menschen von heute ist nicht nur, aber auch eine persönliche. Mich hat sie vor zehn Jahren dort berührt, wo meine innerste Überzeugung brennt, auf die ich immer wieder zurückkomme: die Liebe.
Was sich einfach, vielleicht naiv anhört, ist nicht ganz ohne. Es funktioniert aber. Bestenfalls führt der Hang zur Liebe dazu, dem Gegenüber seine Art und Weise zu lieben zuzugestehen und anderen, statt sie daran zu hindern, den Weg freizugeben.
Eine meine ersten Begegnungen mit sexueller Identität war der britische Sänger Boy George. Es wurde gemunkelt, seine Eletern hätten ihn in Frauenkleider gesteckt und deshalb sei er «so». Jedenfalls ist das meine Erinnerung. Ich fühlte mich mit dieser Figur allein wegen ihrer Andersartigkeit verbunden.
Boy George mit der Band Cultur Club wurden zum Beispiel mit dem Song «Do you really want to hurt me» bekannt.
In der Annahme, dass jeder Mensch auf irgendeine Weise besonders sein will, gibt es eine gute Nachricht: Jeder Mensch – jedes Leben und jede Liebe – ist besonders. Die weniger gute Nachricht: Auch 160 Jahre nach dem Tod von Heinrich Hössli und nach unzähligen Prides ist weder klar noch sicher, dass das so sein darf.
Gut also findet alljährlich mit Weihnachten das Fest der Liebe statt – auch im Angesicht einer Welt voll Hass und Gewalt. Es bietet diesem Teil der Welt Paroli und zum Beispiel Hand, sich im vertrauten Familien- und Freundeskreis über Sternchen und Doppelpunkte zu unterhalten. Im besten Fall steckt hinter dieser Auseinandersetzung das Geschenk, der eigenen Liebe zu den Menschen freien Lauf lassen zu können, statt Hass zu schüren und Gewalt zu ernten.
Autor
Kulturblogger Glarus
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