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Woyzeck in Glarus
Ein sportlicher Tanz zu dritt: Marie, Woyzeck und Andres. Es ist Krieg. Zärtlich gehen die Freunde miteinander um, aber es knallt fürchterlich am Himmel. Andres hört nichts mehr. So beginnt das Theaterstück Woyzeck von Georg Büchner, inszeniert von Regisseurin Christiane Phole für das Landestheater Tübingen, das im März in Glarus zu Gast war.
von Eva Gallati, Kulturbloggerin
Laute repetitive Musik begleitet den Tanz, mir gefällt sie. Es ist nichts Ausgelassenes daran, nur Rhythmus und eine einfache Melodie. Die jungen Darsteller zeigen Kraft und Ausdauer, schön ist das anzusehen! Sie stehen am Anfang ihres Lebens, Liebe und Freundschaft in ihrer reinen Form bilden ihre Position ab am Start in ihr Erwachsenendasein.
Dann tritt der Tambourmajor auf, er trägt einen Trainingsanzug im Balkan-Style, dazu einen breitkrempigen Hut in passender Farbe. Was er am Schlagzeug stehend und den Takt schlagend referiert, ist nicht zu verstehen. Es klingt sachlich und bestimmt. Sein Publikum setzt sich auf die Tribüne. Wir sehen Andres, Marie, den Forschungsleiter, Frau Doktor, Frau Hauptmann und Woyzeck.
Schuhe fliegen von der Tribüne auf den Platz, Woyzeck geht schnell hinunter und sammelt sie ein, um sie ihren Eigentümern zurück zu bringen, aber bald kommt er nicht mehr nach mit Aufheben und Wegtragen. Die Zuschauer auf der Tribüne ziehen Pferdemasken über ihre Köpfe.
Was ist der Mensch? „Staub, Sand und Dreck“. Egoistisch, dumm, unmoralisch, ohne Tugend. Sie sollen „vom Tier lernen, denn es ist noch natürlich“. Ja, und der Bruder Jakob schläft noch immer. Andres ist nun auch noch blind.
Wie vielen bekannt ist, wurde Woyzeck aus Armut zum medizinischen Versuchskaninchen. Er muss schlucken was ihm gegeben wird, um der Menschheit zu dienen. Damit verdient er ein paar Batzen für sich und seine kleine Familie.
Und Woyzeck wird untersucht, eindrücklich wie er da steht und die mikroskopischen Bilder auf seinen fast nackten Körper projiziert werden. Er muss eins um andere Mal antreten, hinter der Bühne hervor, er rennt herbei um sich untersuchen zu lassen. Jedes Mal stellt ihm der Tambourmajor das Bein, sodass er hinfällt. Das Aufstehen fällt ihm immer schwerer. Der Forschungsleiter notiert die Ergebnisse.
Marie freut sich anscheinend ein bisschen ihres Lebens, man sieht ihr das schlechte Gewissen an.
Das Kind, Christian, dargestellt von einem zusammengerollten Mantel, muss still sein, deswegen wird es ohne Unterlass fein geschüttelt, aber niemals gestillt oder liebevoll angeblickt. Einmal kritisch auf Armeslänge gehalten, angeschaut, aber nur um festzustellen: „dich brauchts eigentlich gar nicht mehr“.
Ein grosser Kleiderhaufen, dessen Einzelteile in die Gummimasken gestopft werden, oder die als Bettdecken dienen, oder als Ballast, der in unnötiger Eile von hier nach dort getragen wird, Kleider die herumgeworfen werden. Es sind alles oliv-, feld- und jägergrüne Jacken und Mäntel. Am Schluss wirft Andres so viele wie möglich über den schlotternden Woyzeck, der unter ihrem Gewicht schier zusammenbricht.
Eine schwer verständliche Geschichte, die viel Interpretationsspielraum bietet und Assoziationen weckt.
Meinungen zum Dargebotenen
Eine Zuschauerin, selber Lehrerin an der Kantonsschule Glarus, meint: „Wenn ich’s nicht gewusst hätte, und wenn der Name in dem Stück nicht genannt worden wäre, ich wäre nicht darauf gekommen, dass es sich bei dem Theaterstück um Woyzeck handelt.“
Stimmen von Zuschauerinnen in meinem Alter: „Ich bin noch etwas verwirrt, weiss es nicht…“. – „Ich fand es lauwarm ..." – „Aber langweilig war es nicht“
Das Dramenfragment wird in vielen kleinen Stücken präsentiert. Es gibt für die Inszenierung keine „richtige“ Reihenfolge, diese ist der Regisseurin frei gestellt. Die Rezeption ist dem Publikum überlassen. Die meine war: "Ok…". Ich habe ein bisschen Angst beim Zusehen. Meine Arme fühlen sich taub und schwer an und schmerzen. Ich schaue nicht so gerne zu, wie Leute immer wieder hinfallen. Einer der Schauspieler hatte bereits vor der Vorstellung einen Verband am Handgelenk… Etwas düster Unheimliches, Bedrohliches liegt in der Luft, viel Action passiert.
Vielleicht ist es gerade die unstrukturierte Art eines Stückes wie „Woyzeck“, das unsere inneren Strukturen überfällt und in uns versinkt. Hier findet selber einen Platz, was uns als Erkenntnis gerade noch gefehlt hat.
Nach der Vorstellung kam viel Anerkennung vom Publikum, mit einem langen, ehrlichen Applaus.
Ein paar Tage später lese ich über das kurze Leben von Büchner, und es scheint mir unglaublich und faszinierend, mit wie vielen verschiedenen Themen und Wissensbereichen er sich befasst hat. Er war Rebell, Mediziner, Philosoph, Übersetzer, Forscher. Gleichzeitig lebte er in einer Welt der sozialen und politischen Umbrüche. Büchner sah die Benachteiligung durch materielle Ungleichheit als Grundproblem der Gesellschaft. Wer kennt nicht: „Friede den Hütten, Krieg den Palästen!“ – es ist der Titel einer Flugschrift, welche Büchner zusammen mit seinem Kommilitonen Friedrich Ludwig Weigel 1834 verfasst und illegal veröffentlicht hatte. Friedrich hatte den Text kurz vor der Publikation noch abgeändert, in gemässigtere Worte gefasst.
Georg Büchner stammte er selber aus der gehobenen Gesellschaftsschicht, bekam eine exzellente Schulbildung und kannte keine materielle Knappheit. Er führte ein behütetes und dennoch freies Leben, er konnte seinen vielen verschiedenen Interessen nachgehen und wurde sogar in oppositionelle Kreise aufgenommen, wo er sich als Weltverbesserer austoben konnte, was ausser einem einmaligen Verhör vorerst keine Konsequenzen hatte, aber ein böses Nachspiel: nachdem er einer Vorladung des Untersuchungsrichters keine Folge geleistet hatte, floh der junge Mann anfangs 1935 nach Strassburg. Sein Vater brach danach den Kontakt zu ihm ab, seine Mutter versorgte ihn aber weiterhin aus der Ferne mit Geld. Tja, solche Geschichten passieren heute noch...!
Büchner ging in Strassburg weiterhin seinen Studien nach und schrieb. Seine letzten Monate verbrachte er in Zürich, wo er schwer an Typhus erkrankte und im Alter von nur 23 Jahren starb. Wen es näher interessiert, der kann sich aus einem reichhaltigen Angebot an Sekundärliteratur näher mit dem Leben von Georg Büchner befassen.
Die Figur des Woyzeck entstammt, im Gegensatz zu ihrem Autor, der untersten Gesellschaftsschicht, was damals ein Novum war. Auch die Verwendung von Alltagssprache in Theaterstücken war neu. Georg Büchner hat etwas Neues gewagt, weil er privilegiert war. Noch heute ist sein schmales Werk Lehrstoff an Gymnasien. Wahrscheinlich verdanken wir es Stand, Ansehen und Geld des Vaters Büchner, dass der Nachlass des abtrünnigen Sohnes erhalten blieb und publiziert wurde.
Autor
Kulturblogger Glarus
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