Nurkara: Jessica Loi vor der Malwand
Nurkara: Jessica Loi vor der Malwand
Utensilien
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Der rote Drache
Der rote Drache
Gestaltungsangebot
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Meine "Auslegeordnung"
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Ton als Medium
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Pastellkreiden
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Nurkara - Eingang
Nurkara - Eingang

Glaris

Zu Besuch bei Nurkara, Atelier für Mal- und Gestaltungstherapie

Glarus ist bunt - das zeigt diese Serie über die Malateliers. Nun ist die Reihe an Jessica Loi aus Ennenda - sie öffnet als Dritte ihre Türen und gewährt uns einen Einblick in ihr vielfältiges Reich der Kreativität: Ein Besuch bei Nurkara, dem Atelier für Mal- und Gestaltungstherapie. Hinter dem Namen verbirgt sich eine persönliche Geschichte.

Es ist eine Wiederbegegnung: Vor Jahren hat Jessica Loi wie ich, als freiberufliche Journalistin der Glarner Nachrichten bzw. Südostschweiz gearbeitet. Auch als talentierte Fotografin an verschiedenen Orten habe ich sie erlebt. 2021 eröffnete sie das Atelier für Gestaltungs- und Maltherapie Nurkara in Ennenda. Bereits das schwarzweisse Logo an der Eingangstür macht neugierig: Eine bewegte Hand, eine sehende Hand. Kunsttherapie ist Begegnung und Bewegung. Das durfte ich bereits in den zwei 2023 besuchten Ateliers erfahren. Und jedes ist ganz einzigartig! Wofür steht „Nurkara“?

Schwarz Fläche: Materie, Gestalt, Geburt

Weisses Element: Feld aller Möglichkeiten, Ur-Quelle, erster Anfang, Nullpunkt

Hand: Mensch, Identität, Kollektiv, Gemeinsamkeit, eigene Handlungsfähigkeit

Bewegung: Lebensimpuls, Dynamik, Prozess

Nurkara: geburts-geografische Herkunft von Jessica im Nordwesten Sardiniens. Das Atelier als Ort, wo sich ihre Lebenserfahrungen, Eigenschaften und Kompetenzen manifestieren.

 

Bei Nurkara kann man jeweils Mittwochnachmittags, Donnerstag und Freitag individuell Termine abmachen. Nebst dem therapeutischen besteht auch ein nicht-therapeutisches Angebot, um seine Kreativität auszuleben. So arbeitet Jessica zum Beispiel mit Konfirmanden auf Punktejagd am Thema Glaube, der sich durch die eigene Schöpferkraft ausdruckt. Auch Anlässe finden im Atelier statt, wie eine besondere Geburtstagsfeier oder Team-Anlässe. Der Zugang zu den Räumen ist barrierefrei (ausser dem WC), Menschen verschiedener Herkunft, Alter und Ausrichtung sind willkommen. Heranwachsende sind eine speziell wichtige Zielgruppe: Jessica plant, nebst den Einzelstunden, auch eine Gruppe für Jugendliche aufzubauen. Man spürt die Aufbruchsstimmung im Atelier, das sich dank ihrem Einsatz zu einem vielfältigen lebendigen Angebot entwickelt hat. Als erstes fällt natürlich die grosse Malwand mit den typischen Mustern, bunten Konturen der ehemals hier hängenden Werke, auf. „Ich kann jetzt noch an den meisten Umrissen erkennen, wer hier gemalt hat, um was es ging“, sagt Jessica lächelnd. Von der Wand schaut mich ein kleiner roter Drache an – eigentlich ein nur zufällig entstandener Klecks! Links im Raum steht das Gestell mit Farbtuben, rechts ein Tisch. Auf der Fensterbank ist eine Auswahl an Materialien ausgelegt (Ton, Kreiden, Scherben, Farben, Papier), von denen ich mich später nochmals anlocken lasse. Im Nebenraum, der Küche, können Pinsel und Hände gewaschen werden, und hier lagern weitere Schätze - alles Mögliche, das anregt zum Gestalten, darunter recyceltes wie umgestülpte Tetrapaks, Steine, Tierfiguren, Naturmaterialien, Speckstein, Ton, verschiedene Papiersorten, Bilderkarten, Magazine, Holz, und mehr. Neben dem Material wird auch mit Bedeutungsvollem gearbeitet, wie Krafttiere und Archetypen.

Ihren Berufsweg startete Jessica Loi, die in Netstal aufwuchs, 2005 als Betreuerin in der Heilpädagogik. Die langjährige Erfahrung im HPZ Glarnerland (früher Haltli) kommt ihr bis heute zugute. Mittlerweise ist sie zu 40 % dort als Kunsttherapeutin tätig – und noch Mutter zweier Teenager. So ist sie nah dran an den Nöten, Sorgen und Träumen der Heranwachsenden: „Druck im sozialen Umfeld, Leistungsdruck, Angst nicht zu genügen, und auch andere Ängste, Leiden unter Mobbing oder Schuldgefühlen, und allen voran: Fragen um die eigene Identität“, das seien etwa Themen, mit denen junge Klientinnen und Klienten zu ihr kommen. Dabei ist das Reden-Können und das Gehört-Werden in einem geschützten Raum ebenso wichtig wie das Sich-Ausdrücken durch kreatives Tun. Künstlerisches Talent ist keine Voraussetzung für diese Therapieform. Es reicht die Bereitschaft, sich mit seinen inneren Bildern zu beschäftigen. Auch zwischen den Therapiestunden geht der innere Prozess in der einen oder anderen Weise weiter, so dass sich eine Entwicklung, sprich eine Veränderung der Wahrnehmung gegenüber dem Thema, einstellen kann. Eine bis eineinhalb Stunden dauert eine Therapieeinheit, die ganze Therapie kann ein halbes Jahr, aber auch kürzer oder länger gehen; je nachdem, wie sich das Erleben der Klientin oder des Klienten zur Sache entwickelt, aber auch wie die Bedingungen in seinem Umfeld auf die Person einwirken. Einige werden von der Ärztin oder der Psychologin überwiesen. Auch durch Mundpropaganda finden sie zu ihr.

Mich interessiert, wie Jessica zu ihrem Beruf gekommen ist. „Kunst und Gestalten war mir sehr wichtig, seit ich denken kann. Als Jugendliche war es für mich aber durch meine radikale Lebensart undenkbar, daraus einen Beruf zu machen. Denn ich empfand meine Kunst als ‚heiligen Raum‘, den ich nicht ‚verkaufen‘ wollte. So steuerte ich in Richtung Soziales.“ Doch schliesslich motivierte der Glarner Künstler Mirko Slongo sie, eine Kunstschule zu besuchen. So entstand bei ihr auch die Vision, Kunst und Mensch zu vereinen. „Er meinte, es sei Talentvergeudung, wenn ich aus meiner Leidenschaft nichts mache.“ Ich nicke, irgendwie entdecke ich gewisse Parallelen zu meinem kurvenreichen Weg als Autorin… Auch ich habe mich lange gewehrt, als mir geraten wurde, beruflich etwas mit Sprache zu machen, denn ich wollte die Sprache, mein geheimes Königreich, nicht ‚entweihen‘, banalisieren im Alltag, instrumentalisieren… Aber ja, es kommt immer wieder anders als man denkt und das ist auch gut so! Bei Jessica, die dann tatsächlich 2008 den gestalterischen Vorkurs an der Kunstschule Liechtenstein absolvierte, war nun ein Same gelegt. Doch bis er aufging, dauerte es bis 2017: Die Kinder waren im passenden Alter, Joana neunjährig und Elias acht, als Jessica die Ausbildung zur Mal- und Gestaltungstherapeutin an der Magenta Akademie in Reiden begann. 2021 machte sie den Abschluss. Zudem ist sie beim EMR (Erfahrungsmedizinisches Register) akkreditiert, das für Qualitätsstandards in der Erfahrungsmedizin steht.

Jessicas grosses Spektrum an sozialen und beruflichen Erfahrungen beruht auf ihrem grossen Interesse an menschlichen Erfahrungswelten. So arbeitete sie u.a. ein Jahr lang im psychiatrischen Bereich mit psychisch belasteten Menschen an der Tagesklinik der PDGR und auf der psychiatrischen Station am Kantonsspital Glarus. Auch im Fridlihuus Glarus, einer Wohn- und Tagesstätte für Menschen mit Assistenzbedarf aufgrund einer körperlichen Beeinträchtigung, war sie dreieinhalb Jahre im Atelier tätig. Sie erlebt immer wieder, wie biologische, soziale und psychische Komponenten bei jedem Menschen zusammenwirken. Als Journalistin hat sie gelernt, genau auf Worte und ihre Bedeutung zu achten. In der Kunsttherapie braucht es einerseits den Zugang zur Individualität jedes Menschen, andererseits einen ganzheitlichen, systemischen Ansatz: Z.B. kann das Familienumfeld so eine wichtige Rolle spielen, dass es auf die eine oder andere Weise mit in die Therapie einbezogen wird. So ist es nicht selten, dass Familienmitglieder zu einem gemeinsamen Setting eingeladen werden, wenn das für den Klienten auch passt. Sich für eine Therapie zu entscheiden, ist bereits Teil eines Prozesses: Auslöser sind oft Gefühle, „dass etwas nicht mehr stimmt“, weil etwa eine neue Lebensphase, Rolle, manchmal ein Verlust, etwas verschiebt. Wer mithilfe seiner Kreativität neue Blickwinkel zulässt, kann von der Kunsttherapie profitieren: Man ist nicht mehr allein mit seinem Problem, sondern wird fachkundig, sorgsam und mit 100 % Aufmerksamkeit begleitet.

So ist man geschützt und gestützt beim durchaus fordernden Abenteuer, sich im Malen und Gestalten inneren Bildern oder Zuständen zu stellen, indem man sie ins äusserlich Sichtbare transformiert. Sie werden so zu einem fassbaren Gegenüber, mit dem ein Dialog eingegangen werden kann und das sich auch umgestalten lässt. Wichtig sei zu verstehen, so Jessica, dass nicht die Therapeutin die Expertin des Problems und dessen Lösung sei. Sie unterstützt den Klienten lediglich dabei, sich zu erinnern, dass er der Experte ist und er daher selber weiss, wie es weitergeht. „Mit Hilfe von Bildern kann nämlich das Gehirn ‚ausgetrickst‘ werden und zu neuem Denken und Fühlen angeregt werden. Denn oft fallen wir in schwierigen Situationen in gewohnte Verhaltens- und Denkmuster, die sich einmal als nützlich erwiesen haben, uns jetzt jedoch blockieren, ängstigen usw. Ungewohnte Herangehensweisen – eben wie einem Gefühl eine Farbe zu geben – bringen unser Gehirn und unsere Muster sozusagen durcheinander, was absolut befreiend sein kann. Veränderung der Wahrnehmung, Verarbeitung, Integration und, Loslösung werden möglich, Ressourcen werden wieder aktiviert oder gar neue entdeckt.“ Jessica Loi veranschaulicht das mit dem Beispiel einer Klientin: Das von ihr gemalte Selbst-Bild des „Angekettetseins“ konnte diese auflösen und in das eines Tanzes voller Kraft und Selbstwert verwandeln. Sie trug ab dann Lippenstift in derselben Farbe wie das Kleid auf ihrem Bild, was sie weiterhin in ihrem Selbstbewusstsein als reife Frau stärkte.

Nach dem spannenden Gespräch darf ich mich nochmals den Gegenständen auf der Fensterbank widmen, um damit selbst etwas zu gestalten. Zuerst bietet mir Jessica eine Auswahl von Postkarten an, und ich finde unter den zahlreichen Motiven schnell jenes das mich sofort anspricht. Es geht ums unterwegs sein und Aufbruch zu neuen Wegen. Ich möchte gerne etwas auf einer Fläche – auf dem Tisch – machen und zwar mit Material, das sich verschieben und verändern lässt. Jessica breitet ein Tuch aus und reicht mir einen bunten Sack mit verschiedenen Steinen, darunter auch ein ganz besonderer Kristall. Damit will ich auf dem Tuch meine Wege und Stationen legen, was sehr viel Spass macht und sich als hochinteressant herausstellt. So sehe ich physisch vor mir, wo Leichtes und Schweres, wo Gerümpel oder Schätze, wo Durchgänge oder Blockaden sind. Spannend! Ich bin erstaunt darüber, wie intuitiv „es“ (also wohl mein Unbewusstes) arbeitet – ich scheine einfach „nur“ ausführendes Organ zu sein. Einige gezielte Fragen und Einordnungen von Jessica unterstützen und inspirieren während und nach dieser „Auslegeordnung“. Ganz oben liegt der strahlende Kristall, mein Ziel, zu dem ich unterwegs bin. Ich mache eine Foto vom Ganzen, bevor ich die Steine wieder aufräume. Wenn ich wieder herkäme, könnte ich genau da weitermachen, denn noch ist das Bild nicht fertig: Im oberen Drittel verliert sich der Weg an einer Kurve; ich sehe noch nicht so klar, wo es lang gehen soll… Rollenwechsel: Ich frage Jessica, wie sie rückblickend den Weg zu ihrem Beruf erlebt? Die jugendliche Sorge etwas zu vergeuden oder zu entweihen, sei gewichen. Ihre Energie pulsiert hier im Atelier – und ihre Kreativität: Denn Kunsttherapie anzuwenden – nebst dem Lernbaren, der Theorie und den Methoden – ist ebenfalls sehr kreativ. Und erfüllend.

Swantje Kammerecker

Autor

Kulturblogger Glarus

Catégorie

  • Glaris

Publié à

24.05.2024

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